Fünfzig Jahre nach dem Beitrag zum Erfolg der Apollo-11-Mission tritt Wasserstoff infolge der Energiewende und des Kriegs in der Ukraine erneut ins Rampenlicht. Bevor das Potenzial von Wasserstoff voll ausgeschöpft werden kann, sind etwas Geduld und kurzfristige Investitionsstrategien erforderlich, wie uns Alexander Roose hier erläutert.
Das war vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert – also vor einer Ewigkeit, wenn man die Zeitrechnung der Digitalisierung zugrunde legt, die in nur wenigen Monaten ganze Branchen verändert und umkrempelt. Am 16. Juli 1969 zwängten sich Armstrong, Aldrin und Collins in die enge Kabine der Apollo 11, um ihren Flug zum Mond anzutreten – oben am Firmament, rund 384’000 Kilometer von Cape Canaveral entfernt. Sie sassen dabei auf mehreren hundert Tonnen Wasserstoff, der in der zweiten der drei Stufen der Saturn-Trägerrakete komprimiert worden war. An Bord ihrer Kapsel teilten sie sich den knappen Platz mit Brennstoffzellen, die mit dem gleichen Wasserstoff gefüllt waren und die während der Mission – auf dem Hin- und auch auf dem Rückweg – Wasser und Strom erzeugen konnten.
Fünfzig Jahre später scheint es, dass Wasserstoff trotz dieser spektakulären Anfänge den „grossen Schritt“ nicht getan hat, den die wissenschaftliche Welt damals für ihn vorhersah. Die Vorteile von Wasserstoff sind zwar gewaltig und werfen ein neues Licht auf das Thema ‚Energiewende‘, dennoch ist es verblüffend, wie lange sein Markthochlauf auf sich warten lässt. Im Energiesektor spielt Wasserstoff gemessen an den Zahlen nur eine sehr marginale Rolle. Studien der International Energy Agency zufolge belief sich die weltweite Nachfrage im Jahr 2020 auf rund 90 Millionen Tonnen. Das sind nicht einmal 2% der gesamten Energie, die der Planet, seine Bewohner und seine Verbraucher in einem Jahr verbrennen.
Die chemische und die Ölindustrie sowie, in geringerem Masse, die Stahlindustrie sind die Hauptabnehmer. In der chemi- schen Industrie, die allein 50 Millionen Tonnen verbraucht, wird Wasserstoff in erster Linie zur Herstellung von Ammoniak und Methanol verwendet. In der Ölindustrie dient er der Abscheidung von Schwefel bei der Raffination von Kraftstoffen.
„Fünfzig Jahre später scheint es, dass Wasserstoff trotz dieser spektakulären Anfänge den ‚grossen‘ nicht getan hat, den die wissenschaftliche Welt damals für ihn vorhersah“
In der Eisen und Stahlindustrie wird er aufgrund seiner Eigenschaft, bei sehr hohen Temperaturen zu verbrennen, bei der Herstellung von reinem Stahl als Reduktionsmittel verwendet, um Eisenerz den Sauerstoff zu entziehen. In den nächsten Jahrzehnten dürfte der Einsatz von Wasserstoff jedoch deutlich stärker zunehmen. Laut einem in Zusammenarbeit mit McKinsey erstellten Bericht des Hydrogen Council könnte er ein Fünftel des bis 2050 erwarteten globalen Energiebedarfs decken. Dieser Anteil würde 20% zur erforderlichen Reduzierung der Temperatur beitragen, die nötig ist, um die globalen Erwärmung auf 2 Grad Celsius zu begrenzen. Die dezidierte Politik der Europäischen Union geht bereits in diese Richtung, klar ist aber, dass die Kriegstreiberei von Wladimir Putin diesem Trend gewaltigen Schub verleihen wird. In der jüngsten Vergangenheit ist Europa ange- sichts von Covid und Ukraine-Krieg extrem schnell vorgeprescht – wie immer, wenn grosse Krisen zu bewältigen waren.
Gleichwohl wird Wasserstoff die Zähler nicht über Nacht auf null stellen können. Vielmehr steht er am Anfang eines langen Zyklus. Das Hydrogen Council geht davon aus, dass bis 2030 10 bis 15 Millionen Fahrzeuge von Wasserstoffmotoren angetrieben werden. Für andere läutet Wasserstoff bereits das Ende von Kerosin und den Beginn der Ära dekarbonisierter Flug- zeuge ein. Die Realität könnte aber auch anders aussehen. Damit Wasserstoff sich ein Platz bei den grossen Energieträgern erobern kann, muss er höchstwahrscheinlich einige Zwischenstufen durchlaufen – schliesslich hat auch die Automobilindustrie zuerst das Thema ‚Hybridfahrzeuge‘ abgehakt, bevor sie sich an die vollelektrischen Fahrzeuge herangewagt hat.
Unbestritten ist jedoch, dass Wasserstoff im Kampf gegen die globale Erwärmung, die heute die Gemüter bewegt, herausra- gende energetische Vorteile in die Waagschale legen kann. Erstens kommt er überall vor, meist in Verbindung mit Sauerstoff oder Kohlenstoff. Zweitens besitzt er bei gleicher Masse eine doppelt so hohe Energiedichte wie Erdgas – im Vergleich zu Erdöl ist sie sogar dreimal so hoch. Im Gegensatz zu Kohlenwasserstoffen setzt Wasserstoff bei der Verbrennung kein Koh- lendioxid frei und kann daher einen wichtigen Beitrag zur Energiewende leisten.
Leider weist Wasserstoff einige strukturelle Nachteile auf, die seine breite Nutzung bisher eingeschränkt haben. Seine Herstellung erfordert viel Energie, die Distribution ist kompliziert und die Kosten für seine Nutzung sind daher relativ abschreckend. Es beginnt damit, dass Wasserstoff in der Natur nicht vorkommt. Durch Energiezufuhr wird molekularer Wasserstoff in seine atomare Form dissoziiert. Bis heute werden 96% des Wasserstoffs aus fossilen Energieträgern gewonnen. Dieser wird als grauer Wasserstoff bezeichnet und setzt viel CO2 frei. Im Idealfall sollte die Erzeugung grünen Wasserstoffs durch Elektrolyse bevorzugt werden, wobei für die Elektrolyse ausschliesslich erneuerbare Energien verwendet werden. Sein Preis ist jedoch relativ exorbitant – auch wenn er jetzt niedriger ist als bei grauem oder blauem Wasserstoff, kostet eine Megawattstunde grüner Wasserstoff auf dem Spotmarkt etwa 150 Euro – und die Distribution ist genauso teuer. Für den Transport muss Wasserstoff zunächst bei sehr niedrigen Temperaturen von 250°C, also nahe dem absoluten Nullpunkt, verflüs- sigt werden, was die Transportlogistik sehr anspruchsvoll und komplex macht.
Trotz der naturgegebenen Nachteile sind sich heute alle Fachleute einig, dass Wasserstoff ein Energieträger der Zukunft sein wird. Die Einsatzmöglichkeiten sind viel- seitig: als Brennstoff zur Dekarbonisierung der Schwerindustrie oder zur Beheizung von Wohngebäuden, aber auch als Speichermedium für erneuerbare Energien. „Im Idealfall sollte die Erzeugung grünen Wasserstoffs durch Elektrolyse bevorzugt werden, wobei für die Elektrolyse ausschliesslich erneuerbare Energien verwendet werden.“Europa hat sich für diesen Weg entschieden. Der Green Deal, das Post-Covid-Kon-junkturpaket zur Bekämpfung des Klimanotstands, zuletzt der REPowerEU-Plan, der verabschiedet wurde, um die EU aus der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland zu befreien – die Europäische Union macht Druck für saubere Energie. Die EU konzentriert sich auf drei Ziele: Sicherung der Energieversorgung, Schutz der Verbraucher und natürlich Dekarbonisierung.
Bis 2050 will Europa den Anteil von Wasserstoff an der Energieproduktion von 2% auf 14% hochfahren. Die erforderlichen Haushaltsmittel werden bereitgestellt: 180 bis 470 Milliarden Euro für erneuerbaren Wasserstoff und 3 bis 18 Milliarden Euro für kohlenstoffarmen Wasserstoff. Durch diesen Megatrend entstehen erhebliche Chancen für Anleger, sofern sie umsichtig vorgehen. Fallstricke und Stolpersteine gibt es in der Tat viele. Einsatzpotenzial gibt es zuhauf, beispielsweise in den Bereichen Verkehr, Bauwesen, Elektrolyse, Heizung oder Industriebrennstoffe. Doch nur durch eine genaue Analyse der Wertschöpfungsketten dieser Branchen werden die aussichtsreichsten Optionen ermittelt. Anleger, die von den Wertschöpfungspotenzialen des Wasserstoffs profitieren wollen, sollten sich in Ammoniak-Herstellern und Industriegas-Hersteller, die die Lieferkette kontrollieren, wie Air Liquide, positionieren. Ammoniak ist ein Transportmedium für Wasserstoff und bereitet ihm gewissermassen die Bühne vor, damit er endlich ins Rampenlicht treten kann. In der chemischen Verbindung von Ammoniak reagiert ein Stickstoffmolekül mit drei Wasserstoff-molekülen – und genau hier wird es interessant.
Ammoniak kann daher den Transport von Wasserstoff über sehr grosse Entfernungen ermöglichen, da eine Temperatur von -33°Celsius für seine Verflüssigung ausreicht. Zudem ist Ammoniak ein hervorragender, vielfach verwendeter Kraftstoff, der keinen Kohlenstoff freisetzt. Daher wird Ammoniak in Zukunft zunehmend als Schiffskraftstoff eingesetzt – ein Markt, der viermal so gross ist wie der Einsatz von Ammoniak für die Düngemittelproduktion. Hier ist Japan bereits einen grossen Schritt voraus.
Gleichzeitig gibt es Logistik-Champions, die Wasserstoff lagern und transportieren können – ihnen steht eine strahlende Zukunft bevor! Unternehmen wie Air Products, Linde, Air Liquide, OCI und CF Industries, um nur einige zu nennen, werden deshalb voraussichtlich einen wichtigen Beitrag zur Energiewende leisten. So kontrolliert Air Liquide in Europa über 50% der Wasser-stofflogistikkette. Diese Unternehmen erzielen in diesem Sektor bereits einen Umsatz von 2 Milliarden, wobei sich ihre Einnahmen bis 2030 verdreifachen dürften, da sie sich mitten in der Investitionsphase befinden. Das in den USA ansässige Unternehmen CF Industries verfügt momentan über das weltweit grösste integrierte Produktions- und Distributionsnetz für Ammoniak mit einer Jahresproduktion von 10 Millionen Tonnen. Für CF Industries wird die Umrüstung seiner derzeitigen Anlagen für die Produktion und die Distribution von Wasserstoff langfristig einfacher sein, denn dabei kommen dieselben Prozesse wie bei Ammoniak zum Einsatz. Bisher sind diese Unternehmen noch überwiegend im Hintergrund aktiv. Fest steht aber, dass sie in den nächsten Jahren den Durchbruch schaffen werden – möglicherweise weniger aufgrund des von ihnen geschaffenen Werts, sondern vielmehr wegen der von ihnen angestossenen Umwälzungen.
Bild : Das vor kurzem von den Norwegern von Linde eröffnete grüne Wasserstofftankstellenprojekt in München.